Das normale Haus verschwindet: eine bedauernswerter Umstand
Vor kurzem erschien in der Schweizer NZZ ein längerer Artikel von Vittorio Magnago Lampugniani, der in selten gewordener Klarheit und Hellsichtigkeit das Dilemma des Bauens in unserer Zeit beschreibt.
weblink: https://www.nzz.ch/feuilleton/nur-dauerhafte-dichte-und-sparsame-architektur-kann-in-der-klimakrise-bestehen-ld.1517343?reduced=true
Ein Aspekt dieses Beitrags behandelt die Tatsache, dass zur Zeit beinahe überall in Europa einwandfrei erhaltene, ganz und gar brauchbare und oft auch schöne Häuser abgerissen werden. Das Verschwinden dieser Häuser – ich würde sie gerne normale Häuser nennen – stellt einen gewaltigen kulturellen Verlust dar. Es ist jedoch nicht nur der kulturelle Verlust dieser Häuser zu beklagen. Mit dem Verschwinden dieser normalen Häuser geht leider auch ein gigantischer Aspekt von Energievernichtung einher. Ist das nicht ein Widerspruch? Werden die normalen Häuser Europas nicht überall mit der Begründung eines mangelhaften Energieaspektes als Wohnstätten aufgegeben? Ist das nicht der immer wieder angeführte Grund für den Abbruch vieler normaler Häuser?
Ein normales Haus. Ein kerngesundes Bauwerk, das vor etwa 200 Jahren aus massivem Kalksandstein errichtet wurde wird abgebrochen. Die wichtigste Begründung dafür war sicher: dieses Haus ist nicht mehr Energieeffizient. Was leisten wir uns eigentlich?
Das normale Haus verschwindet: ein Faktencheck
Wenn wir hier ein bisschen in die Tiefe gehen, wird die Sachlage gleich weniger klar. Lampugniani führt in seinem Beitrag einen interessanten Zahlenvergleich an. In Europa ist die Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg von etwa 540 auf 740 Millionen Menschen gewachsen: ein Ausdruck von Frieden und Wohlstand. Seit dem Jahr 1945 ist die Bevölkerung also um immerhin 40 Prozent mehr geworden. Sollte das nicht in einer Umlegung auf den europäischen Hausbestand bedeuten, dass auch dieser im gleichen Zeitraum um 40% gewachsen sei? Das wäre logisch. So ist es aber nicht. Die europäische Bausubstanz ist nämlich in diesem Zeitraum um ganze 80 % gewachsen: Das sind unglaubliche 400 Prozent! Und genau so sieht unsere Welt heute auch aus. Neubauten dominieren. Dort, wo nicht gebaut wird, ist totes Land: Abwanderung, Stillstand, Armut.
Das normale Haus verschwindet: eine Spurensuche
Warum ist das so? Die Erklärung scheint relativ einfach. Bauen ist die verlässlichste Konjukturkurbel für die europäischen Demokratien. Im zyklischen Auf und Ab der Wirtschaft ist ein neues Bauprogramm, eine neue Wohnbauförderung, sind neue Straßen und neue Einkaufs- und Gewerbezentren das verlässlichste Instrument jedes Bürgermeisters, jedes Landeshauptmanns, jedes Ministerpräsidenten, jedes Kanzlers. Wenn die Konjunktur brummt, dann wird drauf los gebaut, als ob es kein Morgen gäbe. Wenn die Wirtschaft schwächelt, dann wird aber auch gebaut! Bauen bindet und schafft Arbeitskräfte. Das ist die Zauberformel, der aktuell unsere normalen Häuser geopfert werden. Diesem ungeheuren ökonomischen Druck können die normalen Häuser des europäischen Bestand leider nichts entgegensetzen. Die normalen Häuser wurden nämlich in einer anderen Zeit und unter anderen Prämissen gebaut.
Das normale Haus verschwindet: Es verschwindet auch unter Dämmpaketen
Wenn das normale Haus nicht abgerissen wird, dann verschwindetes zumindest im Sinne einer besseren Energiebilanz unter dicken, meist auf Erdöl basierten Dämmpaketen. Contradictio in adiecto! Einwandfrei erhaltene, ganz und gar brauchbare und oft auch schöne Häuser verschwinden unter dem vermutlich in seiner Gesamtheit betrachteten unökologischten Produkt, das die Menschheit in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. Aus gesunden normalen Häusern wird solcherart etwas Ungesundes, Kurzlebiges, ökologisch Fatales und zyklisch Unmögliches gemacht. Warum ist das so? Ganz einfach: weil es jemandem nützt. Es nützt den industriellen Herstellern, den Energieberatern, den Statistik-Erzeugen, den Entsorgern, den Anti-Schimmel-Bekämpfern und vor allem den europäischen Politikern, die daran glauben, dass die Bauindustrie mit solchen fragwürdigen Produkten eine neue gesunde und zyklische Normalität herstellen kann, wie das normale Haus das Jahrhunderte lang konnte. Kann sie aber nicht.
Ein normales Haus. Dieses normale Haus könnte aus dem vorigen Jahrhundert sein oder auch vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Ist es aber nicht. Es ist ein Haus aus Stein, das bereits in der Romanik – also vor etwa 800 Jahren! – errichtet wurde. Diese Bilanz können die heute in Schichtbauweise verklebten „normalen“ Häuser nicht erreichen.
Das normale Haus verschwindet: Was können wir dagegen tun?
Es gibt natürlich Spielräume. Die wesentlichsten sind vermutlich – und damit verweise ich wiederum auf den Beitrag von Lampugniani – einfach viel, viel weniger neu zu bauen, sondern die Bestände wieder zu aktivieren. Es muss eine neue Solidität des Bauens her. Das, was wir heute unter Architektur verstehen, vermitteln und ausbilden, ist leider in den allermeisten Fällen – Mist. Hier sind vor allem die Hochschulen gefragt. Nutzung und Zwischennutzung ist das Gebot der Stunde, craddle to craddle ist eine der möglichen zyklischen Verfahren, das wir hierzu benützen sollten. Dazu werde ich in einem der nächsten Blogs mehr sagen. Es wird, wenn wir den schmal gewordenen Bestand der normalen Häuser schützen wollen – UND DAS SOLLTEN WIR UNBEDINGT TUN – dann wird es auch nicht ohne Verbote und Sanktionen gehen.
Buchtipps:
Klaus-Jürgen Bauer (Hg): Zurück zur Mitte. Strategien zur Belebung burgenländischer Ortskerne. Mit Beiträgen von: Peter Adam, Klaus-Jürgen Bauer, Heinz Bruckschwaiger, Manfred Cadilek, Hans Draxler, Daniela Filipovits-Flasch, Roland Gruber, Thomas Kittelmann, Thomas Knoll, Andreas Liegenfeld, Wolfgang Millendorfer, Anton Mittelmeier, Franz Perner, Johann Pötz, Markus Prenner, Nicole Prop, Roland Reuter, Franz Steindl und Rudolf Strommer.- Weber Verlag, Eisenstadt 2015
Klaus-Jürgen Bauer: Entdämmt Euch! Eine Streitschrift.- Lex Liszt 12, Oberwart 2014